Die Weisheit des Winters – Warum Ruhe kein Rückzug ist

Wenn die Tage kürzer werden und die Temperaturen sinken, passiert etwas in uns. Die Natur zieht sich zurück. Die Felder liegen brach, die Bäume entkleiden sich, Tiere werden ruhiger. Und wir Menschen? Versuchen oft, dagegen anzukämpfen. Wir halten das Tempo hoch, funktionieren weiter, planen schon das nächste Jahr. Und manchmal wundern wir uns, warum unser Körper müde wird, warum die Seele nach mehr Stille ruft.

In vielen Traditionen, besonders in der Yogaphilosophie, wird die Natur als Spiegel unseres inneren Lebens verstanden. Der Winter ist dabei nicht einfach nur „dunkel“ oder „kalt“ – er ist eine Einladung. Eine Einladung zu Pause, Einkehr, Verdauung des Jahres. Und genau das fällt uns oft schwer.


Das Missverständnis von „Rückzug“

In unserer Kultur hat „Rückzug“ schnell den Beigeschmack von Schwäche. Wer sich zurückzieht, „kann nicht mehr“ oder „ist nicht belastbar“. Doch in der Yogaphilosophie ist Rückzug ein bewusster Akt von Kraft. Er trägt sogar einen eigenen Namen: Pratyahara – das Zurückziehen der Sinne.

Damit ist nicht gemeint, dass wir uns isolieren. Sondern, dass wir lernen, die äußere Welt nicht ständig zum Mittelpunkt unseres inneren Erlebens zu machen. Wir wenden uns dem zu, was innen lebt – und dort gibt es im Winter oft viel zu entdecken:

  • Was hat dieses Jahr mit mir gemacht?
  • Welche Erfahrungen haben mich bewegt?
  • Welche Wunden brauchen Wärme und Zeit zum Heilen?
  • Welche Wünsche wurden sichtbar?

Ruhe bedeutet nicht Stillstand. Ruhe bedeutet Integration.


Der Winter als Übergangs-Raum

Der Winter ist eine Schwelle zwischen Altem und Neuem. In der Natur können Samen nur keimen, weil sie während des Winters ruhen. Ohne diesen Prozess gäbe es kein Wachstum im Frühjahr. Yogaphilosophisch bedeutet das:

Transformation braucht Zeiträume ohne Leistung.

Für Menschen, die Traumaerfahrungen mitbringen, kann Der-Winter-Modus besonders wertvoll sein. Denn Nervensysteme, die lange im Überlebensmodus waren, brauchen Zeiten niedriger Reize, weicher Bewegungen und sichere Räume. Die Stille des Winters kann genau das sein – wenn wir lernen, ihr zu vertrauen.

Doch Stille kann auch Angst machen. Sie kann das hervorrufen, was wir im Alltag durch Aktivität verdecken. Das ist normal. Und deshalb ist in dieser Zeit freundliche Selbstbegleitung so wichtig.


Yogaphilosophie im Winter leben

Um die Qualität des Winters bewusst zu erleben, können wir uns an drei Prinzipien orientieren:

1. Sanftheit (Sukha)

Nicht alles muss heute entschieden werden.
Nicht jeder Tag braucht ein Ergebnis.

Erlaube dir, langsamer zu sein.
Sanft sein ist nicht „weniger“ – es ist weise.

2. Wahrnehmung (Svādhyāya – Selbstforschung)

Nimm wahr, was sich in dir bewegt.
Ohne Bewertung.
Ohne Analyse.
Nur beobachten.

Was fühlt dein Körper, wenn du zur Ruhe kommst?
Wo sitzt Spannung?
Wo gibt es Weite?

3. Vertrauen in Zyklen

Kein Winter bleibt für immer.
Das Licht kommt zurück.
Immer.

Wenn wir auf die Natur schauen, sehen wir: Alles ist in Bewegung, alles lebt in Wellen. Wir dürfen uns diesen Wellen hingeben.


Traumasensitives Yoga im Winter

In der yogatherapeutischen Arbeit mit Menschen mit Trauma oder Krankheit setzen wir im Winter oft andere Schwerpunkte. Nicht dynamische Flows, nicht „Power“, sondern:

  • Weiche, tragende Atemräume
  • Bewegungen, die Halt vermitteln
  • Bodyscan statt Stretching
  • Pausen zwischen den Asanas
  • Viele Optionen, wenig Erwartung

Es geht darum, sich selbst wieder spüren zu dürfen – nicht, sich zu optimieren.

Eine ganz einfache Übung für den Winter lautet:

Hand aufs Herz – Hand auf den Bauch.
3 Atemzüge einladen.
Nicht tiefer, nicht besser – nur spüren.
Ich bin hier. Das reicht.

Diese Übung ist kein „Tool“. Sie ist ein Türöffner. Eine Erinnerung daran, dass wir existieren dürfen, auch wenn wir gerade nichts leisten.


Winter als Seelenzeit

Vielleicht ist dieses Jahr viel passiert.
Vielleicht war es anstrengend.
Vielleicht trägst du gerade etwas Schweres.

Und vielleicht ist genau jetzt ein leiser Moment möglich.

Du musst nichts loslassen.
Du musst nichts verarbeiten.
Du musst nichts finden.

Du darfst einfach:
Sein.

Im Yogasutra heißt es:

Yoga ist das zur Ruhe kommen der Bewegungen im Geist.

Der Winter lädt uns genau dazu ein – aber nicht mit Zwang, sondern mit leiser Freundlichkeit.


Ein persönlicher Impuls für diesen Monat

Vielleicht magst du dich in den nächsten Wochen einmal fragen:

Was würde passieren, wenn ich mir erlaube, weniger zu müssen?

Vielleicht entsteht Platz. Vielleicht entsteht Weite.
Vielleicht entsteht ein kleiner Lichtpunkt, den du mit in das neue Jahr tragen kannst.

Und wenn sich die Dunkelheit manchmal schwer anfühlt – erinnere dich:

Auch die Samen unter der Erde liegen warm und sicher im Dunkeln.


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